Kein Dienst nach Vorschrift
Rudolf Höser, Pressesprecher der Bundespolizeiinspektion Trier, berichtete im Mainzer Dommuseum über seine Zeit an der deutsch-österreichischen Grenze im November 2015.
Die Bilder waren wochenlang in den Medien: Menschen auf dem Weg nach Deutschland, Männer, Frauen, Kinder jeden Alters, unterwegs mit Rucksäcken oder nur noch dem, was sie am Leib tragen. Die Lage an der deutsch-österreichischen Grenze ist bereits unüberschaubar, als Angela Merkel am 5. September 2015 das Weiterreiseverbot außer Kraft setzt. Wenn dies auch nur für die in Ungarn festsitzenden Menschen auf der Flucht gelten soll: Vom 1.-13. September kommen 83 000 Menschen über die deutsch-österreichische Grenze. Dann werden Grenzkontrollen eingeführt.
Rudolf Höser, Pressesprecher der Bundespolizeiinspektion Trier, war vom 1.-30. November 2015 vor Ort. Am vergangenen Mittwoch hat er im Rahmen der Sonderveranstaltungen des Mainzer Dommuseums zur aktuellen Ausstellung FLUCHT 2.0 – an odyssey to peace über seine Eindrücke und Erfahrungen aus dieser Zeit berichtet.
Die erste Aufgabe und Herausforderung für die Bundespolizei nach dem Beschluss der Kanzlerin: 2.000 Bundespolizisten aus ganz Deutschland müssen zur Grenze gebracht, Unterkünfte und Verpflegung für sie organisiert werden. Turnhallen werden eingerichtet, Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen angemietet. Verpflegungspunkte werden installiert. Keine 24 Stunden später sind die Einsatzkräfte vollzählig vor Ort.
Als Höser im November eintrifft, ist die Lage immer noch angespannt, inzwischen aber gut durchorganisiert: Pro Stunde – darauf haben sich deutsche und österreichische Politiker verständigt – werden an jedem der fünf Übergangspunkte 50 Personen über die Grenze gelassen (6.000 pro Tag) . Der Grenzübertritt der Geflohenen ist auch für die Polizisten von Brisanz: Rechtlich gesehen müsste gegen jeden einzelnen der Flüchtenden Anzeige erstattet werden. Die Bundespolizei ist zur Strafverfolgung verpflichtet. Kommt Sie dieser Pflicht nicht nach, macht sie sich selbst strafbar: Strafvereitelung im Amt. Höser berichtet: „Das war ein Thema, das nach Feierabend heftig diskutiert wurde. Wie sollen wir uns verhalten? Welche Konsequenzen haben wir zu befürchten?“ Politiker, denen diese Fragen vor Ort gestellt werden, geben keine Antwort. Aus dem Bundesinnenministerium gibt es dazu keine Weisung. „Die humanitäre Situation hat deutsches und europäisches Recht ausgehebelt. Wir haben keinen Polizeidienst mehr geleistet, sondern einen humanitären Einsatz“, erläutert Höser und ergänzt mit leisem Stolz: „Das haben alle 2.000 Kollegen genauso gesehen.“
Das Kontingent von 50 Personen pro Stunde ermöglicht den Polizisten die Durchsuchung, Registrierung und einen Gesundheitscheck jedes Einzelnen. Die Sicherheit und Gesundheit der Beamten steht dabei im Vordergrund. Aber „wenn sich jemand der Durchsuchung verweigert hat, haben wir das erstmal akzeptiert“, so Höser. „Wir wussten ja nicht, ob derjenige nicht z.B. traumatische Erfahrungen mit Gewalt gemacht hat. Für so jemanden kann körperliche Nähe bedrohlich wirken.“ Dolmetscher konnten jedoch in den meisten Fällen beruhigend einwirken.
Sie sind es auch, die aus den Vielen die Wenigen identifizieren, die als „falsche Syrer“ versuchen, ins Land zu kommen. Unkenntnis über die örtlichen Gegebenheiten der angeblichen Heimat, der Dialekt, manchmal auch ein Blick ins Gepäck, in dem sich staatliche Dokumente befinden, geben die wahre Herkunft – meist Nordafrika – preis. Laut Aussage des Bundespolizisten gibt es pro Tag mehr als ein Dutzend solcher Fälle.
Per „Fast-ID“, einem Verfahren, das den Abgleich der Fingerabdrücke mit den Daten des BKA in Sekundenschnelle ermöglicht, werden außerdem Personen identifiziert, die zuvor bereits als nicht-asylberechtigt aus Deutschland ausgewiesen wurden. Fingerabdrücke zu nehmen hält Höser für unerlässlich: „Nur so können wir sicherstellen, dass wir wissen, wer zu uns ins Land eingereist ist. Nur so können wir den Überblick behalten, nur so kann auch Sozialmissbrauch verhindert werden. Es bedeutet auch ein mehr an Sicherheit für die Asylsuchenden, die eine reelle Chance auf Asyl haben.“
Höser, der bald in Pension geht, ist seit vierzig Jahren bei der Bundespolizei, seit acht Jahren dort Pressesprecher. Er berichtet ruhig, unaufgeregt, beschönigt nichts; schildert auch den Messerangriff eines Syrers auf Polizisten, berichtet von den (wenigen) Männern, die sich weigern, einer Polizistin zur nächsten Station zu folgen, weil sie sich von einer Frau nichts vorschreiben lassen wollen, verschweigt nicht, dass unter den sogenannten falschen Syrern auch Personen waren, die in Deutschland per Haftbefehl gesucht wurden. Trotz aller Sachlichkeit merkt man, dass ihn die Erlebnisse im November immer noch bewegen. Zum Beispiel, wenn er von der älteren Dame erzählt – nicht arm, aber auch nicht wohlhabend – die einen Einkaufswagen voll mit Nahrungsmitteln in die Versorgungsstelle für die Geflüchteten bringt. Von den Ehrenamtlichen, die dort rund um die Uhr Lebensmittel verteilen , immer motiviert, immer mit einem Lächeln. Von dem Journalisten, der drei Kisten Bananen spendet. ‚Was‘, habe er sich gefragt, ‚mache ICH eigentlich hier?‘ Trotz der Arbeit bleibt Zeit für persönliche Begegnungen. Da ist die Frau, die ohne Unterlass weint, um ihr dreijähriges Kind, das im Mittelmeer ertrunken ist. Immer wieder schaut sie sich die drei Bilder auf ihrem Handy an -alles, was ihr von dem Kind geblieben ist. Höser druckt ihr die Bilder zweifach aus, „damit sie etwas in den Händen halten kann.“ Er fotografiert viel: Den Blick eines ca. Zehnjährigen,
der auf der österreichischen Seite hinter dem Schlagbaum auf die Weiterreise wartet. Ein Blick voller Bewunderung für den Mann in Uniform, der auf der sicheren Seite steht. ‚Was denkt dieser Junge über mich?‘, fragt Höser sich. Der Blick habe ihn noch beim Einschlafen begleitet. Oder Kinder, die in einem der Zelte in der eingerichteten Malecke sitzen. Um sie herum unzählige Bilder mit Blumen, der Flagge der Heimat, der Flagge Deutschlands. Erstaunlich bunte, hoffnungsfrohe Bilder – die nicht jedem in das Bild passen, das er selbst von der Situation in die Öffentlichkeit tragen will.
Die Medien berichten verhältnismäßig lange über das Thema Flucht. „Zu Beginn war alles vor Ort, was Rang und Namen hat.“, erzählt Höser. „Die großen deutschen Medien, aber auch Presse aus den USA, Griechenland, Finnland, dem Balkan. Nach der Hochphase im September bis November wurde es weniger, mit dem ersten Schnee nochmal mehr. Erschöpfte Menschen, die, unzureichend gekleidet, durch Schneegestöber laufen – das macht nochmal was her. „Da hat sich deutlich die Spreu vom Weizen getrennt, was die Berichterstattung betrifft.“, sagt Höser. Wo denn die erfrorenen Kinder seien, fragt ihn die Journalistin eines Privatsenders. Es gibt sie nicht. Keiner muss frieren. Die Flüchtenden werden mit Bussen zur Grenze gefahren, müssen gerade die zwanzig Meter über die Grenzlinie gehen und steigen auf deutscher Seite wieder in einen Bus. Gezeigt wird das im ausgestrahlten Bericht nicht. Stattdessen werden die zwar nicht winterfesten zu dem Zeitpunkt jedoch völlig ausreichenden Zelte thematisiert, den Behörden Scheitern vorgeworfen. Dass alles gut und so menschenwürdig wie möglich läuft, ist eben keine Sensation. Höser beendet daraufhin die weitere Zusammenarbeit mit der Journalistin.
Und heute? Seit Schließung der Balkanroute kommen nur noch 80-150 Menschen pro Tag an den Übergangspunkten an. Höser sieht die Situation nur als Atempause, als Stand-By für die Bundespolizei. Die Menschen, das weiß Höser, werden andere Wege suchen. Es werden wieder vermehrt Schleuseraktivitäten registriert, vor allem übers Mittelmeer – dem gefährlichsten Weg nach Europa.
Hösers Fazit nach seinem Einsatz im November: „Der Einsatz war für mich persönlich und sicherlich auch für viele Kolleginnen und Kollegen eine Herausforderung. Wir, die einen Krieg nicht selbst erleben mussten, ihn nur vom Hörensagen und den schrecklichen Bildern aus den Medien kennen, sind froh, diesen Menschen geholfen zu haben. Dass die Menschlichkeit über geltendes Recht dominierte, hat im Polizistenherz Herzrhythmusstörungen verursacht, unserem Menschenherz aber ein überaus gutes Gefühl gegeben. Bis heute.“
(c) FOTO: BUNDESPOLIZEI.